Bald würden die Mondwinden zu blühen beginnen. Sie kamen jedes Jahr
verlässlich wieder, jedes Jahr pünktlich um dieselbe Zeit.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der uralte Strauch einmal absterben
könnte. Er war schon immer da gewesen, schon vor ihrer Geburt. Auf alten
Schwarzweiss-Fotos hatte sie ihn entdeckt, natürlich viel kleiner als heute, aber
eindeutig der Mondwindenstrauch, rankend, blühend. immer wachsend. Er war viel
grösser geworden. Jedes Jahr wuchs er weiter, jedes Jahr öffneten sich neue
Blüten, jedes Jahr wartete sie sehnsüchtig darauf, dass die Knospen sich
öffneten, nachts, bei Mondschein. Sie wartete am Fenster, in ihrem Sessel
sitzend, ein Buch aufgeschlagen im Schoss, doch selten lesend. Wachend und
gleichzeitig ruhend sah sie in den Garten hinaus, eine Hand zwischen die Seiten
des Buches gelegt, eine Kanne Tee neben sich auf dem Tisch, die dampfende
Teetasse daneben.
Manchmal kam Kay herüber und setzte sich zu ihr ans Fenster, das offen stand.
Kay setzte sich immer ganz nah ans Fenster, damit sie den Duft des Gartens
noch besser in sich aufnehmen konnte, die frische Erde, die Blätter der Bäume,
die Wiese, manchmal den leichten Regen, der in den Blättern flüsterte. Zusammen
warteten sie darauf, dass die Mondwinden zu blühen begannen. Sie tranken Tee und
zündeten Kerzen an, eine nach der anderen brannte nieder, doch das Warten wurde
ihnen nicht lang. Sie redeten leise, aber meistens schwiegen sie zusammen.
Die Zeit dehnte sich zur Unendlichkeit und verschwand schliesslich ganz.
Irgendwo im dunklen Geäst der Bäume begann eine Nachtigall zu singen; sie
sahen einander an und lächelten. Die letzte Kerze war niedergebrannt, im Zimmer
wurde es dunkel, nur der Mond schien. Und die Blüten der Mondwinde öffneten
sich wie in jedem Jahr, so zeitlos, so schön wie das Mondlicht selbst.
Weisse Sterne leuchteten auf dunklem Grund und wieder blühte der nächtliche
Garten, darüber stand der Mond klar und hell wie aus Bergkristall.