06.05.18

an einem stinknormalen sonntagnachmittag in einem maurischen café


für imuhar

....“es ist alles andere als leicht, kreativ zu sein“, sagte die elegante junge dame in richtung der chimäre, die mit einer tasse dampfenden kakaos neben ihr sass und höflich nickte. das in breiten bahnen hereinströmende licht vergoldete die maurischen gitter und verschlungenen arabesken vor den fenstern des cafes, einige staubflocken tanzten durch die luft. ihnen gegenüber sassen zwei männer im traditionellen berbergewand und spielten eine partie schach. der ihnen gegenübersitzende blickte zu ihnen herüber und lachte mit blitzendem gold im mund. er legte seine braune hand mit den schwarzen fingernägeln auf einen dolch, der neben dem schachbrett auf dem tisch lag. der verlierer des spiels würde mit dem spiel auch sein leben verlieren...ein alter brauch, um meinungsverschiedenheiten zwischen stammesfürsten zu regeln, zumindest in dieser gegend, wo krieg nicht auf dem schlachtfeld, sondern am schachbrett ausgefochten wurde.
"ein guter brauch", murmelte der grünäugige drache am nebentisch, "beinah unblutig und voll esprit, fast wäre ich versucht, es ihnen gleichzutun." er blickte spöttisch zur chimäre hinüber, die ihn standhaft ignorierte, seit er sich neben sie gesetzt hatte. der drache war inzwischen dazu übergegangen, patience zu legen. mit flinken pfoten klopfte er eine reihe nach der anderen herunter und stiess lange rauchsäulen aus.
ja, meine liebe“, kam vom fräulein am nebentisch, das sich wieder der chimäre zugewandt hatte, „es ist gar nicht leicht, in diesen zeiten noch einen funken von...je ne sais pas...fantasie...zu entwickeln, wie ihr sicher ebenfalls wisst.“ die chimäre nickte mitfühlend und schenkte dem fräulein tee aus einem grossen, silbernen samowar nach. der drache hatte eine wasserpfeife bestellt und rauchte sie nun mit sichtbarem genuss...die rauchkringel, die er fabrizierte, stiegen zur decke empor und bildeten dort eigentümliche barocke muster aus stuck.

das schachspiel der stammesfürsten war entschieden, der schnitt durch die kehle schnell und lautlos, der tod, der sich in dieser gegend azrael nannte, betrat den raum und holte den durchscheinenden verlierer ab, nicht ohne ihn zuvor noch auf ein glas absinth einzuladen. 
der raum hatte sich inzwischen mit rauch gefüllt und man konnte nicht mehr viel erkennen. der drache hatte begonnen, nervös vor sich hinzupaffen, seit der tod das lokal betreten hatte. eine dicke rauchwolke verhüllte ihn wie ein tarnmantel, dahinter hörte man ihn rumoren und abwehrformeln murmeln. „echsen sind das abergläubischste volk des universums“, beschied  die chimäre dem fräulein und lächelte fein und ein kleines bisschen hämisch. „das habe ich jetzt gehört“, drang dumpf aus der wolke am nebentisch, „und ich setze es auf die liste eurer untaten, allerwerteste.“ das fräulein erstickte ihren plötzlich auftretenden hustenanfall in einem spitzentaschentuch, das es aus dem ärmel seiner cremefarbenen tropenjacke gezaubert hatte. die chimäre legte ein winziges goldnugget auf den tisch und trank ihren kakao aus. „es liegt wohl am rauch, er wird immer mehr, man kann kaum mehr atmen“, sagte sie. „es wird ohnehin zeit für unseren besuch am gewürzbasar, vielleicht könnt ihr dort einige inspirationen für euer neues buch sammeln. ich hoffe es inständig. als muse und als freundin, die ich euch geworden bin.“ die beiden damen verliessen das cafe, das hinter ihnen in einer veritablen nebelbank verschwand. die grünen augensterne des drachen folgten ihnen noch eine zeitlang durch die gassen, dann zogen sie sich wieder zu ihrem besitzer zurück...

im cafe packte der drache eilig seine karten, zigaretten und einige englische und französische tageszeitungen in seinen rucksack und liess auch einen silbernen kaffeelöffel mitgehen. er legte einige sorgfältig abgezählte münzen auf den tisch und drückte sich an der hochaufragenden gestalt des todes vorbei, der noch immer an der bar stand und sich angeregt mit einer gruppe von berbern unterhielt. 
es ging um ein weiteres schachspiel, diesmal zwischen dem tod und dem inzwischen beinahe unsichtbaren stammesfürsten, der, so er gewinnen sollte (was der tod als sehr unwahrscheinlich einstufte), wieder ins leben zurückkehren dürfte. „es ist ja eigentlich verboten“, kam gerade vom tod, als der drache das cafe verliess und kopfschüttelnd auf die strasse trat, um die verfolgung der beiden damen aufzunehmen....


19.10.2005